Ausgezeichnete Forschung: Jugendliche und ihre Bilder über Juden und Jüdinnen
Bernadette Edtmaier gewährt in ihrer Doktorarbeit einen umfassenden Einblick in die Gedankenwelt österreichischer Jugendlicher in Bezug auf das Judentum. Das Spektrum von Assoziationen zu Jüdinnen und Juden reicht von Solidarisierungs- und Empathiebekundungen bis hin zu Stereotypen und Verschwörungstheorien. Im Gespräch erklärt sie ihr Vorgehen, nennt positive wie negative Bilder, weist auf Wissenslücken hin und führt aus, in welche Richtungen weiter Forschungsbedarf besteht. Ihre Arbeit wird mit dem Förderpreis für Wissenschaft & Kunst des Kulturfonds der Stadt Salzburg ausgezeichnet.
Das Thema Antisemitismus hat Bernadette Edtmaier nicht mehr losgelassen. Nach einer Vorlesung von Helga Embacher zur Geschichte der Judenverfolgung an der Uni Salzburg macht sie den gesellschaftlichen Umgang mit Jüdinnen und Juden zum Gegenstand ihrer Forschung. Bilder und Vorstellungen von Jüdinnen und Juden aufzuzeigen, die heute unter österreichischen Jugendlichen vorkommen, ist das Ziel ihrer Doktorarbeit, die sie im Frühsommer 2020 abgeschlossen hat. Für dieses umfangreiche Unterfangen erhält sie den Förderpreis des Kulturfonds, denn trotz der Brisanz des Themas wird in Österreich wenig dazu geforscht. „Die Auszeichnung kam aus heiterem Himmel. Es ist eine große Ehre und ein besonderes Geschenk für mich“, freut sich die Historikerin über die Prämierung ihrer Arbeit.
Positive Bilder, Wissenslücken und Stereotype
„Die Ergebnisse zeigen, dass das Thema Antisemitismus in der Gesellschaft, aber auch unter Jugendlichen ein sehr emotionales und durchaus kontroverses ist“, fasst Edtmaier zusammen. In ihrer Studie wird eines besonders deutlich: Der Großteil der befragten Jugendlichen äußert sich positiv, empathisch oder unvoreingenommen. Mit Aussagen wie „Sie sind genauso Menschen wie wir und sollten auch dementsprechend behandelt werden!“ sprechen sich einige Befragte klar gegen Diskriminierung aus. Am häufigsten werden Juden und Jüdinnen aber in Verbindung mit dem Holocaust gebracht und als Opfer angesehen. In einzelnen Fällen wurden in der Befragung auch eindeutig negative Bilder angegeben, besonders in Bezug auf den Israel-Palästina-Konflikt. Die Einstellungen der Mädchen und Burschen sind teilweise von Doppelbildern geprägt. „Jüdinnen und Juden werden von manchen Jugendlichen als Opfer und Täter wahrgenommen – die Assoziation variiert je nach Kontext. In Bezug auf den Nationalsozialismus gibt es große Betroffenheit und Empathie. Das Verhalten der israelischen Politik im Konflikt mit den Palästinenser*innen macht die jüdische Bevölkerung in den Augen mancher Teenager aber zum Täter“, weiß Edtmaier.
Die Historikerin hat außerdem festgestellt, dass es im Alltag kaum Anknüpfungspunkte zum Judentum gibt. Nicht-jüdische Jugendliche haben quasi keinen Kontakt zu jüdischen Mitbürger*innen. Nur in zwei Fällen wurde von Freundschaften berichtet. Diese fehlende Verbindung kann das Judentum allerdings zu etwas Fremdem, Exotischem machen. Dem 2019 verstorbenen Marko Feingold kommt für viele Salzburger Jugendliche eine wichtige Bedeutung zu. Er war häufig der einzige Jude, den sie persönlich erlebten.
Filmtipp: Wie geht es einem jüdischen Jugendlichen damit, ständig nur ‚als Jude‘ wahrgenommen zu werden? Der Kurzfilm Masel Tov Cocktail greift genau diese Problematik auf und zeigt ,wie es ist, als jüdischer Teenager in Deutschland aufzuwachsen.
Besonders das Bild des reichen Juden hält sich bis heute hartnäckig. „Das Stereotyp ‚Juden sind reich‘ ist aber noch nicht antisemitisch. Das geschieht erst dann, wenn damit eine klare Abwertung einhergeht“, erklärt Bernadette Edtmaier. Unter ihren Befragten finden sich nur vereinzelt Jugendliche, die an Verschwörungstheorien festhalten. So führen zwei an, sie hätten gehört, Juden könnten Krebs heilen und würden dieses Wissen bewusst für sich behalten oder seien für die Terroranschläge am 11. September 2001 in New York verantwortlich.
Generell deckt die Untersuchung mangelndes Wissen über den Israel-Palästina-Konflikt sowie über die Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg auf. Gleichzeitig ist das Interesse an einer Auseinandersetzung mit der Shoah aber durchaus groß. „Besonders wenig ist über den Israel-Palästina-Konflikt bekannt. Gleichzeitig aber scheinen stark vereinfachte Bilder, die teilweise emotional stark aufgeladen sind, eine gewisse Verbreitung zu finden“, gibt Edtmaier zu denken.
Befragung von Jugendlichen, Guides und Lehrkräften
Für die Studie wurden 330 nicht-jüdische Jugendliche und 53 Studienanfänger*innen anonym befragt. Erfahrungen von Lehrer*innen und Guides in Mauthausen vervollständigen das Bild der Teenager, zeigen aber auch andere spannende Facetten auf. Edtmaier berichtet: „Besonders interessant sind die Schilderungen der Guides. Manche erzählten mir, dass Schüler*innen mit Migrationsgeschichte dem Thema häufig offener begegnen und sich trauen, mehr Fragen zu stellen. Ein besonderer Lernprozess findet immer wieder im Denkmalpark statt, wenn Jugendliche Gedenktafeln jener Länder finden, in denen sie bzw. ihre Eltern geboren wurden. Hier wird ihnen oft bewusst, dass das Thema Nationalsozialismus weit über Österreich und Deutschland hinausreicht und beispielweise auch Türk*innen im KZ Mauthausen inhaftiert waren.“
Diese Ergebnisse machen klar, dass die Vor- und Nachbereitung eines KZ-Gedenkstätten-Besuchs in der Schule enorm wichtig sind, und – auch zu diesem Schluss kommt Bernadette Edtmaier – ein Besuch alleine nicht zwangsläufig vor antisemitischen Einstellungen schützt.
Edtmaier ist es wichtig zu betonen, dass die Studie nicht repräsentativ ist, vielmehr sei sie explorativ vorgegangen. Das Ziel bestand also darin, das Forschungsfeld möglichst breit auszuloten, um mögliche Zusammenhänge und weiterführende Forschungsfragen aufzuspüren. Ihre Ergebnisse sind eine wichtige Basis für weitere Studien.
Tipp der Expertin: Die internationale Studie Addressing anti-Semitism in Schools bietet praktische Hilfestellungen und jede Menge Informationsmaterial für Pädagog*innen.
Skizzenhafte Portraits veranschaulichen Antisemitismus-Spektrum
Für den Umgang mit potentiell bis klar antisemitischen Aussagen, die sie in 71 Fragebögen entdeckte, entwickelte Edtmaier ein eigenes Vorgehen: Sie analysierte die entsprechende(n) Aussage(n) im Kontext des übrigen Antwortverhaltens und fertigte „skizzenhafte Portraits“ dieser Befragten an.
„Dabei hat mich interessiert, wie diese Jugendlichen auf andere Fragen geantwortet haben, etwa ob sie bereits an einer KZ-Gedenkstätte waren, ob sie Interesse an einer Beschäftigung mit der NS-Zeit und dem Israel-Palästina-Konflikt zeigen oder welche Bilder über Juden und Jüdinnen in ihrem sozialen Umfeld verbreitet sind. Interessiert hat mich außerdem, wie klar ein antisemitischer Gehalt vorliegt und in welchem Kontext“, berichtet die Forscherin über ihre Vorgehensweise.
Um die vielen Schattierungen einschlägiger Aussagen zu ordnen, bildete Edtmaier ein aus zehn Kategorien bestehendes Antisemitismus-Spektrum. „So konnte ich aufzeigen, dass manche Jugendliche nur sehr vorsichtig und unsicher einer antisemitischen Aussage zustimmen, andere unterscheiden und schränken negative Aussagen auf bestimmte Juden ein und wieder andere lehnen die Juden pauschal ab.“
Doch was sind die Ursachen für antisemitische Einstellungen unter Jugendlichen? Ihre Vorstellungen sind wohl stark durch das soziale Umfeld geprägt. Gleichzeitig dürfen entwicklungspsychologische Aspekte nicht außer Acht gelassen werden. „Die vielschichtigen Antworten der Jugendlichen offenbaren auch ihre Unsicherheiten. Sie befinden sich in einer Phase, in der sie mit vielen Bildern und Vorstellungen konfrontiert werden, zu denen sie sich noch nicht immer eine eigene klare Meinung gemacht haben“, gibt Edtmaier zu bedenken.
Mehr „Gegenerzählungen“ und ein breiteres Vermittlungsangebot
Aus ihrer Untersuchung sind für Bernadette Edtmaier auch Ideen und Vorschläge für die Arbeit mit Jugendlichen hervorgegangen.
Da Jugendliche mit Juden und Jüdinnen vor allem die NS-Zeit verknüpfen und sie mit Geld in Verbindung bringen, wären mehr „Gegenerzählungen“ wünschenswert. „Etwa, dass es auch sehr arme Juden und Jüdinnen gibt, jüdische Handwerker*innen oder Lehrlinge. Ich denke, man sollte mehr auf Gemeinsamkeiten fokussieren und nicht immer auf die Unterschiede und Besonderheiten“, meint Edtmaier.
Die Historikerin spricht sich für ein breiteres Angebot an Lehrer*innenfortbildungen und mehr außerschulische Vermittlung zu gegenwärtigem Antisemitismus aus: „Es wäre schön, wenn Jugendliche österreichweit Zugang zu Workshops hätten, in denen sie lernen, wie zum Beispiel Verschwörungstheorien funktionieren, wie man sie erkennen und entlarven kann. Wie wichtig diese Fähigkeiten sind, zeigt auch die Corona-Krise.“ Ganz generell würde Bernadette Edtmaier es begrüßen, wenn sozialpsychologische Themen wie soziales Verhalten und Zusammenleben im Schulkontext noch stärker Berücksichtigung fänden.
Stoff für Nachfolgeforschungsprojekte gebe es jedenfalls genügend, denn die Studie wirft weitere Fragen auf: Inwieweit haben Peers bzw. Freund*innen Einfluss auf Bilder Jugendlicher über Juden und Jüdinnen? Mit welchen Tabus und Sagbarkeitsgrenzen wachsen sie auf? Was versprechen mehr persönliche Kontakte zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Jugendlichen? Oder: Über welches Wissen zur jüdischen Geschichte, zur NS-Zeit und zum Israel-Palästina-Konflikt sollten Jugendliche eigentlich verfügen?
Antisemitismus ist und bleibt eine gesellschaftliche Herausforderung. Es gibt auf diesem Gebiet genug zu tun, wozu Bernadette Edtmaier mit ihrer Arbeit als Forscherin und Lehrerin einen Beitrag leisten möchte.
Zur Person
Bernadette Edtmaier absolvierte das Lehramtsstudium Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung (Universität Salzburg) und Bildnerische Erziehung (Universität Mozarteum). Im Juni 2020 verteidigte sie ihre Dissertation mit dem Titel „Bilder über Jüdinnen und Juden unter Jugendlichen in Österreich“. Sie lebt seit Kurzem in London und versucht zwischen Reisebeschränkungen, Brexit-Chaos und Corona-Lockdown in der englischen Metropole Fuß zu fassen. Aktuell arbeitet sie für ein Projekt des Austrian Cultural Forum zum Thema Exilforschung und interviewt Österreicher*innen, die während der NS-Zeit nach Großbritannien fliehen konnten, nach der Methode der Oral History. Zukünftig möchte sie wissenschaftliche Forschung mit einer Lehrtätigkeit verknüpfen, da sie die direkte Arbeit mit Jugendlichen besonders schätzt. Die junge Forscherin stellt sich hier im Videoportrait vor.
Auszeichnung für Kultur und Wissen
Der Kulturfonds der Stadt Salzburg zeichnet jedes Jahr herausragende Leistungen und neue Ansätze mit internationalen Haupt- und Förderpreisen für Kunst & Kultur sowie Wissenschaft & Forschung aus. Darüber hinaus werden ein Kinder- und Jugendprojektpreis sowie ein Salzburgpreis, verbunden mit einer Partnerschaft, vergeben. Der Kulturfonds besteht seit 1964.