Future Literacy: Kinder erzählen von der Corona-Krise

Projekt FULICE Bildungslabore

Ein Forschungsprojekt des Fachbereichs Erziehungswissenschaft an der Universität Salzburg und den Salzburger Bildungslaboren untersucht, wie Kinder und Jugendliche mit der COVID-19-Pandemie, Lockdowns und Home-Schooling umgehen. Daraus entstanden, sind nicht nur Texte, die analysiert wurden, sondern auch Zeichnungen, die im Museum der Moderne Rupertinum zu sehen sind.

Superheld:innen, die gegen ein Virus kämpfen, Babyelefanten und mit Sicherheitsschloss verriegelte Häuser – die Wände, an denen normalerweise zeitgenössische Kunst hängt, schmücken aktuell Kinderzeichnungen. Diese lassen tief in die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Pandemie blicken. „Leben in der Krise: Kreative Einblicke von Schüler:innen“ nennt sich die Ausstellung im Museum der Moderne Rupertinum, die von 5. bis 20. November 2022 zu sehen ist. Die Zeichnungen sind Ergebnis eines Forschungsprojekts der Uni Salzburg.

Zukünftige Großeltern erinnern sich an die Gegenwart

Entstanden sind die Werke im Rahmen des Projekts „FULICE: Future Literacy – Krisennarrationen von Kindern als Räume von Utopien der Solidarität“. Dabei wurde untersucht, wie Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 13 Jahren aus Österreich, Deutschland, Schweiz und Griechenland die Corona-Pandemie wahrgenommen haben. Im Zentrum der Studie stehen die Erfahrungen mit Schule und Lernen, der Alltag in der Familie, gesellschaftliche Folgen der Krise und mögliche Zukunftsperspektiven.

„Future Literacy ist ein Projekt der Salzburger Bildungslabore, dessen Aufgabe es ja ist, mit Schulen zu arbeiten und Schüler:innen aktiv einzubeziehen“, erklärt Ulrike Greiner, Bildungswissenschaftlerin an der Universität Salzburg. Der Begriff Future Literacy stammt von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) und meint die Fähigkeit, Zukunft denken zu können. „Für uns war es besonders spannend zu sehen, wie sich die Schüler:innen die Zukunft vorstellen und diese sprachlich ausdrücken“, so Greiner.

Bisherige pädagogische und erziehungswissenschaftliche Untersuchungen sehen Kinder meist als Betroffene und selten als Handelnde. Mit FULICE ist das anders. Daher hat man sich gegen eine Befragung entschieden. Stattdessen wurden die Schüler:innen auf eine kleine Zeitreise eingeladen und sollten ihren Enkelkindern von der Pandemie erzählen.

Text und Bild als späte Erinnerungen

Um Einblick in die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen zu erhalten, stellten ihnen die Forscher:innen eine Schreibaufgabe, die später um eine Zeichenaufgabe erweitert wurde. In einer imaginierten Erinnerungsrede sollten sie ihren Enkelkindern von der Corona-Krise berichten. Die Aufgabe verschränkt Zukunft (Erzählwelt) und Gegenwart (erzählte Welt) und stimuliert ein utopisches und/oder dystopisches Denken – abhängig wie optimistisch oder pessimistisch die Corona-Krise bewertet wird.

Aufgabenstellung:

Es ist das Jahr 2080. Du bist über 70 Jahre alt und dein Enkel/deine Enkelin ist zu Besuch. In den Medien wurde ausführlich über die Corona-Krise im Jahr 2020 berichtet. Dein Enkel/deine Enkelin ist sehr neugierig und möchte mehr wissen. Er/Sie fragt dich nach deinen Erinnerungen. Du erzählst ihm/ihr, wie alles begonnen hat, wie sich dein Alltag, dein Schulleben, dein Familienleben und der Kontakt zu deinen Freunden verändert hat.

Nachdem du deine Geschichte fertig geschrieben hattest, fiel dir gerade ein, dass du irgendwo auf dem Dachboden ein Bild von dir aufbewahrt hattest, das du vor 60 Jahren in der Coronaviruszeit angefertigt hattest, als du noch ein kleines Kind warst. Nimm Papier und Bleistift oder Farben und zeichne dieses Bild!

Seit Mitte Mai 2020 beteiligten sich Schüler:innen aus 16 Schulen in Deutschland, Österreich, Schweiz und Griechenland. Sie besuchen die vierte, fünfte oder sechste Schulstufe an einer Volkschule, Mittelschule oder an einem Gymnasium. Die erziehungswissenschaftliche Forschung kann nun auf einen Schatz aus über 800 Texten und mehr als 100 Bildern zurückgreifen.

Projekt FULICE Salzburger Bildungslabore

Welche Erinnerungen haben Kinder an die Corona-Krise? Was wird ihnen im Gedächtnis bleiben? Neben Texten hielten die Kinder ihre Eindrücke auch in Form von Zeichnungen fest.

 

Vier Sichtweisen auf die Krise und ihre Folgen

Bei der Schreibaufgabe konnten die Forscher:innen vier Stile der Kinder und Jugendlichen identifizieren: Eine Gruppe (23,74 %) beurteilte die Corona-Krise als vorübergehenden „Zwischenfall“ ohne weitere Konsequenzen. Eine zweite Gruppe (25,63 %) konzentrierte sich eher auf das Schulleben und die Folgen der vermehrten Nutzung von digitalen Medien auf soziale Kontakte. Eine dritte Gruppe (23,47 %) rückte die globale Krise in den Vordergrund ihrer Texte und betrachtete vor allem die gesellschaftlichen Auswirkungen, weniger die persönlichen Erlebnisse. Um die Krise als Dauerzustand, bleibende Veränderungen und einen Appell an mehr Solidarität drehten sich die Texte einer weiteren Gruppe (27,15 %).

Unterschiede zwischen den Schultypen konnten die Wissenschaftler:innen keine feststellen. Jedoch führt Ulrike Greiner aus, dass die Textanalyse zeigt, dass Schüler:innen in Deutschland stark die Themen Schule, Lernen, Angst vorm Scheitern und die eigene Befindlichkeit behandelten. In Griechenland wurde Corona eher in einen großen gesamtgesellschaftlichen Kontext eingebettet und die Folgen für bestimmte gesellschaftliche Gruppen diskutiert – weniger die individuelle Ebene.

Ein Aspekt, so stellt die Forscherin fest, findet sich in allen Erzählungen: „Generell waren wir überrascht über die hohe Bedeutung der Familie für die Kinder und Jugendlichen. Natürlich wurden Freund:innen und die Peergroups häufig genannt, aber das familiäre Umfeld – wie geht es Mama und Papa, wann werde ich die Großeltern wieder sehen? – hat bei den Schüler:innen einen hohen Stellenwert“, berichtet Greiner.

Projekt FULICE Salzburger Bildungslabore

Die Erinnerungen an das Jahr 2020 als Geschichte einer Oma an ihre Enkelin.

 

Vorstellungen und Zukunftsbilder aus der Lebens- und Schulwelt

Ob es nun die kämpfenden Superheld:innen sind oder die unterschiedlichen Darstellungen des Social Distancing, die persönlichen Texte und die Zeichnungen geben einen berührenden Einblick in den Alltag in der Corona-Pandemie. Sie bringen zum Vorschein, was Kinder am meisten beschäftigt hat: Trennung von Familie und Freund:innen, Ängste und Sorgen rund um die Krankheit, Masken, Impfstoff und vieles mehr. Ihre Erinnerungen zeichnen wertvolle Bilder für die Forschung und repräsentieren ihren Umgang mit Gegenwartsproblemen. In einem weiteren Schritt werden nun die Zeichnungen aus kunstwissenschaftlicher und bildungswissenschaftlicher Hinsicht untersucht.