Kämpferin gegen die Arroganz der Macht

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Radka Denemarková ist für viele die wichtigste tschechische Autorin der Gegenwart und eine der gefragtesten politischen Stimmen des Landes. Ihre Werke wurden bisher in 23 Sprachen übersetzt. Seit Anfang September ist sie als H.C.-Artmann-Stipendiatin zu Gast in der Wissensstadt. Salzburg inspiriert: hier hat sie gerade ihr neues Buch begonnen.

„Ich arbeite an einem Panorama Europas. Drei Familiengeschichten aus verschiedenen Nationen geben Einblick in das 19., 21. und 23. Jahrhundert“, verrät Radka Denemarková und fügt lachend hinzu „Damit wissen Sie nun mehr als mein Verlag.“

Während ihrer Zeit in Salzburg legt die Prager Autorin die Familienkonstellationen und emotionalen Verbindungen fest, die historischen Details arbeitet sie erst später aus. Außerdem recherchiert sie über das 19. Jahrhundert. Anregungen findet sie zum Beispiel in der Geschichte von Mozarts Schwester Nannerl oder in den Texten von Irma von Troll-Borostyáni. Radka Denemarková ist davon überzeugt, dass viele Probleme unserer Zeit ihren Ursprung im 19. Jahrhundert haben: „Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Unterdrückung der Frauen – all diese Phänomene sind heute noch präsent. Sie sind tief verankert im Körper Europas.“

Wer Denemarkovás Werke kennt, der weiß, dass es keine langweilige Familienerzählung wird. Ihre Literatur gilt als provokant, politisch, aber dennoch poetisch. Die Schriftstellerin lehnt sich gegen patriarchalische Strukturen auf und gibt Opfern eine Stimme. Sie verwebt Fiktion und Fakt und schafft damit fesselnde Gesellschaftsporträts. Durchschnittlich drei Jahre braucht sie für ein Buch, an ihrem letzten Werk Stunden aus Blei hat sie fünf Jahre gearbeitet.

Besessen von neuen Ideen

Als sie Anfang September nach Salzburg gekommen ist, war sie sehr müde, erklärt die Verfasserin vieler Bestseller bei unserem Treffen. Sie sehnte sich nach Ruhe, weil sie die Arbeit an ihrem letzten Buch sehr ausgelaugt hatte. Mittlerweile sprüht sie wieder vor Ideen.

Radka Denemarková erzählt, dass sie besessen ist von neuen Einfällen und Fragestellungen und sich während des Schreibens regelrecht von ihrer Umwelt abkapselt. Doch Salzburg bietet viele Ablenkungen. Egal, ob am Rupertikirtag oder im Kaffeehaus, die Autorin ist ständig auf der Suche nach Mikro-Situationen, ganz alltäglichen Vorkommnissen, die sie beobachtet und in ihre Arbeit einfließen lässt.

Stimme für die Ungehörten

Die Pragerin hat keine Scheu vor Tabuthemen. Ihr Buch Ein herrlicher Flecken Erde dringt tief in die Geschichte ihres Heimatlandes ein und thematisiert die Vertreibung der Deutschen aus Tschechien nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Buch mit dem (ironisch gemeinten) Titel Ein Beitrag zur Geschichte der Freude entpuppt sich als Kriminalroman über ein Archiv, das vom Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart Gewaltverbrechen an Frauen speichert. Denemarková verfasste den Roman bereits 2014, aber erst durch die #metoo-Bewegung ab Ende 2017 erhielt die Erzählung große mediale Aufmerksamkeit.

Als ihr Lebenswerk bezeichnet Radka Denemarková ihren jüngsten Roman Stunden aus Blei, für den sie drei Jahre lang in China recherchierte. Für sie vereint China das Schlimmste von Kommunismus und Kapitalismus, die Menschenrechte hingegen bleiben auf der Strecke. Sie befürchtet, dass so auch die Zukunft Europas aussehen könnte.

Die Bücher der Tschechin behandeln ungemütliche Themen. „Natürlich könnte ich mich hinsetzen und an einem Wochenende eine seichte Geschichte mit Happy End schreiben, aber das will ich nicht“, sagt die Schriftstellerin. „Mit meiner Literatur möchte ich Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, eine Stimme geben. Darin sehe ich die Aufgabe von Literatur.“

Mit ihren Texten und Büchern sorgt Radka Denemarková in Tschechien und darüber hinaus für Aufsehen und Diskussion, sie erntet aber auch Hass und Kritik. Doch mit den Jahren hat sie gelernt, kritische Stimmen einfach abprallen zu lassen. „Mit dem Alter kommt die nötige Gelassenheit, außerdem hilft Humor immer“, lacht sie.

 

Vier Fragen an Radka Denemarková

Sie arbeiten auch als Übersetzerin von deutscher Literatur. Worauf legen Sie beim Übersetzen besonderen Wert?

Meist mache ich meine Übersetzungen zwischen zwei Romanen. Ganz wichtig ist mir der persönliche Kontakt mit der Autorin bzw. dem Autor. Ich habe schon fünf Bücher von Herta Müller übersetzt, in der Zwischenzeit sind wir gut befreundet. Ich übersetzte ausschließlich ins Tschechische. Dabei nähe ich dem Text einen schönen Mantel auf Tschechisch.

Sie wurden bereits vier Mal mit dem höchsten tschechischen Literaturpreis, dem Litera Magnesia, ausgezeichnet. Während Ihres Aufenthalts in Salzburg mussten Sie in die Schweiz reisen, da Ihnen der Spycher: Literaturpreis Leuk verliehen wurde. Was bedeuten Ihnen diese Preise?

Ich freue mich über jeden. Besonders bei Stunden aus Blei gilt der Preis auch jenen Menschen, die hinter dem Buch stehen. Am literarischen Markt werden heutzutage vermehrt lediglich Produkte angeboten. Schön, dass auch echte Literatur noch geschätzt und gewürdigt wird.

Welche Bücher haben Sie geprägt?

Literatur hat für mich schon immer eine große Bedeutung. Ich habe noch eine Zeit erlebt, in der Bücher verboten waren. Am meisten haben mich Bücher beeinflusst, durch die man sich durchkauen muss. Gelesen habe ich natürlich Virginia Woolf, Franz Kafka, Thomas Bernhard, Fjodor Dostojewski, Ingeborg Bachmann und viele mehr. Literatur lehrt auch Sensibilität und Empathie.

Ihre Zeit in Salzburg ist zur Hälfte vorbei. Welches Resümee können Sie heute schon ziehen?

Das Stipendium ist für mich eine großartige Gelegenheit. Es ist heutzutage nicht mehr selbstverständlich Künstlerinnen und Künstler frei und eigenständig arbeiten zu lassen. Als Mutter zweier Kinder konnte ich früher solche Angebote nicht in Anspruch nehmen. Schön, dass es das H.C.-Artmann-Stipendium nicht nur für junge Autorinnen und Autoren gibt.

 

Wissensstadt Salzburg SIR

Radka Denemarková ©Wissensstadt Salzburg/Kraxberger

Zur Person 

Die Tschechin Radka Denemarková, geboren 1968, studierte Germanistik und Bohemistik an der Karls-Universität. Heute arbeitet sie als Schriftstellerin, Dramatikerin, Drehbuchautorin, Essayistin, Übersetzerin und lehrt Creative Writing. Die Autorin sticht insbesondere mit ihrer Kritik an Gesellschaft und Politik hervor und ist gern gesehener Gast auf Literaturfestivals auf der ganzen Welt. Ihre Bücher wurden vielfach prämiert, u.a. vier Mal mit dem renommierten tschechischen Magnesia-Litera-Preis. Denemarková beeindruckt mit hervorragenden Deutsch-Kenntnissen. Schon als 9-Jährige erhielt sie Deutsch-Unterricht, mit ihrer Lehrerin verband sie eine lebenslange Freundschaft. Struwwelpeter ist das erste Buch, das sie auf Deutsch gelesen hat. Die alleinerziehende Mutter zweier Kinder lebt in Prag.