Individualisierung als Zaubertrick im digitalen Zeitalter

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Schritte zählen, Schlaf überwachen, Trainingserfolge bestimmen – die Selbstvermessung im digitalen Zeitalter war das Forschungsthema von Dhenya Schwarz, wofür sie mit dem Nachwuchspreis für Zukunftsforschung ausgezeichnet wurde. Die ständige Überwachung des Körpers birgt auch Gefahren, weiß die Expertin. Seit Anfang November ist die Soziologin in Salzburg und arbeitet als Scientist in Residence in der Robert-Jungk-Bibliothek an ihrer Dissertation. Darin will sie die Spaltung der Gesellschaft behandeln und plädiert dafür, dass wir aufhören sollten alles ständig zu bewerten und zu kritisieren.

Die Smartwatch am Handgelenk oder die Fitness-App am Handy – immer mehr Menschen lassen sich im Alltag von verknüpften Technologien begleiten, um so ihre Leistung zu verbessern. Als Soziologin hat Dhenya Schwarz keinen technischen Blick auf diese Dinge, wie zum Beispiel eine Programmiererin, sondern beschäftigt sich damit, was die Verwendung mit dem Menschen macht und welche Konsequenzen das auf unsere Gesellschaft hat. „Meine Fragestellung lautet: Wie positionieren wir uns in der Gesellschaft durch Technik? Durch das Aufzeichnen und Überwachen von Verhaltensweisen und Leistungen profitieren die Benutzer:innen vom Belohnungseffekt. In Wahrheit füttern sie aber mit ihren Daten nur Algorithmen und Statistiken und geben damit den Unternehmen eine große Macht“, erklärt die Forscherin aus Aachen, die am Lehrstuhl für Technik- und Organisationssoziologie arbeitet.

Gefangen in der Tracking-Falle

Viele Menschen nutzen Tracking-Technologien zu Beginn nur aus Neugierde. Sei es ein Fitness-Programm, das zu mehr Training motivieren soll, oder eine App zur Schlafüberwachung oder zum Zählen von Kalorien und Schritten. Doch das kann schnell in eine Art Abhängigkeit und Selbstoptimierungszwang kippen und Menschen stark beeinflussen. „Man spricht hier von Materialisierung. Also wenn mir die Smartwatch zeigt, dass ich schlecht geschlafen habe, dann fühle ich mich auch so. Menschen verlernen durch diese Selbstvermessung sich auf ihre Intuition zu verlassen. Individualisierung heißt der Zaubertrick in unserer digitalen Gesellschaft“, ist Schwarz überzeugt und rät dazu, auf sich selbst zu vertrauen.

Für ihre ausgezeichnete Masterarbeit hat sie im Hinblick auf das breite Spektrum des Selftrackings zwischen Lifelogger – also diejenigen, die ihren gesamten Alltag protokollieren – und den Hobby-Nutzer:innen verschiedene soziologische Theorien untersucht (u.a. von Michel Foucault und Christoph Kucklick).

Echtes Miteinander statt ständigen Bewertungen

Aktuell beschäftigt sich Dhenya Schwarz mit dem Thema für ihre Dissertation. „Tatsächlich hat mich die gesellschaftliche Diskussion zwischen Kritik und Zustimmung zu den Corona-Maßnahmen auf mein Forschungsthema gebracht. Wir leben in einem ständigen Spannungsverhältnis, alles wird sofort bewertet und kritisiert, was wiederum zu einer schnelleren Radikalisierung führt“, so die Soziologin.

Befeuert wird dies durch die Digitalisierung und neue Plattformen und Publika, die dadurch entstehen. Schwarz erklärt, dass es heute viele Gruppen gebe, mit denen man sich leicht und schnell identifizieren kann – von einem veganen Lebensstil bis hin zu LGBTIQ*. Dies habe aber auch eine große Lagerbildung zur Folge. „Man ist entweder für was oder dagegen. Diese Bewertungsstrukturen führen zu einer automatischen Diskriminierung der jeweils anderen in unseren Köpfen. Anstatt sofort im Affekt zu reagieren, sollten wir uns mehr auf echte Diskussionen und Interaktionen einlassen“, führt Schwarz aus und schlägt vor, individuelle Entscheidungen zu treffen statt vorschnell zu (ver)urteilen.

 

Drei Fragen an Dhenya Schwarz

Bei aller Kritik am Selftracking, könnte man auch sagen, dass solche Technologien trotz allem die Gesundheit steigern und zu mehr Selbsterkenntnis führen. Viele Benützer:innen sind einverstanden mit ihren Daten die Algorithmen zu füttern, weil diese Technik für sie einen Zweck erfüllt. Wie sehen Sie das?

Hier müssen wir erst einmal den Begriff Gesundheit definieren. Es gibt das bio-medizinische Verständnis, wann ein Mensch als gesund gilt. Dabei wird aber die soziale Komponente außer Acht gelassen. Die Materialisierungseffekte – dass Leute mehr den smarten Technologien als sich selbst vertrauen und dadurch abhängig werden – sind Teil des Geschehens und diese Effekte können sehr drastisch sein. Auch das ständige Vergleichen mit anderen über die Sozialen Medien hat schwere Konsequenzen für unser Wohlbefinden und Auswirkungen darauf, wie wir uns wahrnehmen.

Wie kann Sie die Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen (JBZ) bei Ihrer Forschungsarbeit unterstützen?

Vor zwei Jahren habe ich den Leiter der Jungk-Bibliothek auf einer Konferenz kennengelernt. Seit dem sind wir in Kontakt geblieben und ich war auch zu einer Montagsrunde eingeladen. Dies ist nun mein erster längerer Aufenthalt in Salzburg. Das Stipendium nutze ich vor allem dazu, mich voll und ganz der Forschung zu widmen und um mich mit den Mitarbeiter:innen der JBZ auszutauschen. Ich möchte mich in meiner Dissertation mit den Bewertungsvorgängen in der Gesellschaft auseinandersetzen. Dafür werde ich das Delphi-Verfahren anwenden, bei dem Personen in mehreren Befragungen ihre Einschätzungen abgeben, woraus zukünftige Trends und Problemlösungen abgeleitet werden. Außerdem sprechen wir schon über weitere gemeinsame Veranstaltungen in der JBZ.

In der Online-Serie Was kommt danach? der Jungk-Bibliothek haben Sie vergangenes Jahr das Buch Corpus Delicti von Juli Zeh empfohlen. Im Buch geht es um eine Gesundheitsdiktatur, die Lebensgewohnheiten steuert und kontrolliert. Nun sind wir am Ende eines weiteren Jahres der Pandemie, ist das Buch Ihrer Meinung nach immer noch relevant?

Dieses Buch würde ich heute tatsächlich nicht mehr empfehlen. Stattdessen würde ich zu Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen von Jenny Odell raten. Die Autorin und Künstlerin fordert darin auf, unser Leben von Effizienzdenken und Selbstoptimierung zu befreien.

 

SIR Dhenya Schwarz

Soziologin Dhenya Schwarz ist die Robert-Jungk-Stipendiatin 2021.

Zur Person

Dhenya Schwarz arbeitet neben ihrem Dissertationsvorhaben als Projektmitarbeiterin an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen am Lehrstuhl für Technik- und Organisationssoziologie. Dort absolvierte sie auch ihr Bachelor- und Masterstudium. Die Doktorarbeit ist die letzte Station ihrer wissenschaftlichen Laufbahn, zukünftig sieht sie sich eher im Bereich Wissenschaftskommunikation. Aufgewachsen ist die Soziologin ebenfalls in Nordrhein-Westfalen in der Nähe von Bonn. Die ersten Lebensjahre verbrachte sie aufgrund der beruflichen Tätigkeit ihrer Eltern in Kanada und Frankreich. Sprachen lernt sie am liebsten auf Reisen, um sie auch gleich anzuwenden. Ihre Spanischkenntnisse sind ein Souvenir einer Guatemala-Reise.

Mittlerweile arbeitet Dhenya Schwarz aufgrund der Pandemie seit fast zwei Jahren im Homeoffice. Den ersten Lockdown beschreibt sie als eine durchaus erkenntnisreiche Zeit, in der sie sich auch über vieles klargeworden ist. Dass sie nun ausgerechnet während ihres Aufenthalts in Salzburg wieder im Lockdown landet, stört sie nicht. Die Wissenschaftlerin genießt die Zeit, um in Ruhe an ihrem Forschungsprojekt zu arbeiten. In Aachen wie auch in Salzburg erledigt sie alles zu Fuß. Beim Gehen kann sie gut nachdenken – auch ohne ihre Schrittanzahl zu kennen. Und das findet sie auch gut so.