„Kunst kann nicht Infotainment sein“
Tanasgol Sabbagh verbrachte im Juli als H.C.-Artmann-Stipendiatin vier Wochen in Salzburg. Seit zehn Jahren steht sie als Spoken-Word-Performerin auf der Bühne. Autobiografisches, Alltagserfahrungen und soziale Konflikte mischt sie zu eindringlichen Texten. Die Poetin aus Berlin setzt sich für mehr Frauen und Vielfalt in der Slam-Szene ein und unterstützt Jugendliche dabei, ihre Stimme zu finden. Mit uns spricht sie über Kunst, die mehr ist als die Reproduktion eines Rezepts, und über die gesellschaftliche Verantwortung von Künstler*innen.
In Salzburg habe sie gelernt, in ihrem Bett konzentriert zu schreiben, erzählt Tanasgol Sabbagh erstaunt. In Berlin arbeitet sie nur an ihrem Schreibtisch. Die WG-Bewohnerin genießt es, in Salzburg einen Raum für sich zu haben und widmet sich vielen Projekten. „Über die Zeit sammeln sich Texte und Fragmente an, die ich aber wegen anderer Aufträge nicht fertigstellen kann. Dafür ist jetzt die Zeit“, ist Sabbagh froh.
Aufgrund der Einschränkungen durch Corona ist die Slam Poetin schon lange Zeit nicht mehr auf der Bühne gestanden. Ihr fehlt die Resonanz mit dem Publikum: „Wenn man auf der Bühne steht, ist man mit dem ganzen Körper präsent, man wird gehört und nimmt unmittelbar die Reaktionen der Menschen wahr.“
Die vergangenen Monate nutzte sie, um sich künstlerisch weiterzuentwickeln. Sie experimentierte mit Textformaten, Längen und der Verbindung von Text und Musik. Gleichzeitig haderte die Berlinerin auch damit, ihre Texte nicht persönlich vortragen zu können. „Ich hatte auch Angst. Wie schaffe ich es, etwas zu vermitteln, das nicht durch meinen Körper geht?“, gesteht die Künstlerin.
Slammen für soziale Vielfalt
Als junges Mädchen habe sie noch gedacht, komplizierte Angelegenheiten vereinfachen zu müssen und leicht verdaulich zu präsentieren. Diese Vorgehensweise bezweifelt Sabbagh heute und greift auf andere sprachliche und performative Möglichkeiten für Themen wie Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Rassismus, Rechtsextremismus und Sexismus zurück. Ihre Texte dringen mit Nachdruck ins Bewusstsein und hinterlassen ein beklemmendes Gefühl und Gänsehaut. Sie greift sowohl eigene Erfahrungen auf, zeigt aber auch, was in unserer Gesellschaft tagtäglich passiert.
Gemeinsam mit anderen Künstler*innen setzt sich Tanasgol Sabbagh für mehr Vielfalt auf deutschsprachigen Bühnen ein. Sie ist Mitbegründerin des Kollektivs parallelgesellschaft und Mitglied der Slam Alphas, einem Verein zur Förderung von Frauen auf deutschsprachigen Slambühnen. Sabbagh spricht sich stark für Frauensolidarität unter Künstlerinnen aus. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Line-ups sehr unausgeglichen sind. Unter den U20-Slammer*innen gibt es noch einen hohen Frauenanteil, später nimmt dieser leider ab“, berichtet die Poetin. In der Slam-Szene vermischen sich Arbeit, Kollegialität und Freundschaft, was häufig dazu führt, dass Männer wiederum Männer zu Wettbewerben einladen. Der Auftritt einer Quotenfrau reicht nicht aus. Auch Veranstalter*innen müssen hierfür sensibilisiert werden, um Mädchen und Frauen eine sichere Zeit auf und hinter den Bühnen zu ermöglichen. „Wir haben den Verein gegründet, damit hier mehr Austausch passiert und sich Frauen nicht als Konkurrentinnen wahrnehmen, sondern solidarisch unterstützen, gegenseitig stärken und sichtbar machen“, ist Sabbagh überzeugt.
Ungehörten Stimmen eine Perspektive geben
Tanasgol Sabbagh gibt auch Workshops für Jugendliche. Im Herbst 2020 durfte sie eine sogenannte Brennpunktschule in Berlin Kreuzberg ein Semester lang begleiten. Viele der Schüler*innen haben ein niedriges Selbstbewusstsein und sind ohne Perspektive, beschreibt die Künstlerin. In ihren Workshops möchte sie die Jugendlichen durch Impulse zum Schreiben animieren. Mit literarischen und performativen Übungen lädt die Poetin sie ein, ihre Scham abzubauen. Besser als ihre Lehrkraft, vermittelt die Slammerin den jungen Leuten Nähe und gibt ihnen Möglichkeiten zur Identifikation. „Ich möchte ihnen klarmachen: Deine Gedanken bedeuten was! Mein Körper ist porös, ständig sammeln sich Erfahrungen darin. Ich fülle ihn aus und deshalb hab ich was zu sagen. Dieses Vertrauen möchte ich den Schüler*innen mitgeben“, so Sabbagh über ihre Tätigkeit.
Sie plädiert auch dafür, die Teenager in ihrer Mehrsprachigkeit zu fördern: „Die Arbeit an der Schule zeigt mir auch, wo gesellschaftlich relevante Arbeit stattfinden muss. Kunst kann nicht Infotainment sein. Künstler*innen haben eine Verantwortung und können Menschen berühren, auch wenn sie sie nicht verstehen. Eine Performance kann eine sinnliche Erfahrung sein, auch wenn man die Sprache nicht versteht.“
Drei Fragen an Tanasgol Sabbagh
Beim Poetry Slam gibt es auch eine starke Interaktion mit dem Publikum. Ist dir der Austausch mit dem Publikum wichtig?
Ich bin schon traurig, wenn nicht mindestens ein „Woooo!“ kommt [lacht]. Wenn ich vor Publikum auf der Bühne stehe, dann kann ich gut zwischen konzentriertem und gelangweiltem Schweigen unterscheiden. Ich fühle mich den Zuschauer*innen nicht ausgeliefert, denn ich weiß, dass es heute anders ist als morgen. Die Dynamik des Publikums macht mir große Freude. In den nächsten Tagen habe ich zwei Live-Auftritte in Wien und das ist etwas Besonderes nach der langen Zeit des Lockdowns. Ich bin auch sehr aufgeregt. Bei Online-Events oder hybriden Veranstaltungen baut sich zwar auch diese nervöse Anspannung auf, aber sie löst sich nicht auf.
Wie gehst du damit um, dass man von deinen Auftritten viele Videos im Internet findet?
Ein Vortrag ist etwas Flüchtiges, er findet nur auf der Bühne statt. Heute wird alles aufgezeichnet und die Videos sind im Internet. Das suggeriert, dass man keine Fehler mehr machen darf. Doch die Videos dokumentieren auch eine Entwicklung und einen Prozess. Dinge dürfen unfertig und prozesshaft sein.
Es braucht in unserer Gesellschaft generell ein größeres Verständnis dafür, dass Dinge nicht abgeschlossen sind. Wir befinden uns stetig im Wandel. Der Wunsch, alles zu finalisieren und zu perfektionieren, ist eine sehr männliche Herangehensweise. Man darf auch Zweifel in einer Performance erkennen, zum Beispiel durch die Haltung oder den Vortragsstil. Es ist wichtig, dass Brüche erlaubt sind. Alle, die in ihrer Identität jemals einen Bruch erlebt haben, wissen, dass sie nie mehr ganz werden – und das müssen sie auch nicht. Kunst ist nicht nur die Reproduktion von einem Rezept, sondern man kann auch über sich hinausgehen.
Wie waren deine Anfänge als Poetry Slammerin?
Auch wenn es kitschig klingt, ich habe schon als Kind Gedichte geschrieben, viel gelesen und auch Theater gespielt. Eigentlich wollte ich Schauspielerin werden. Während des Abiturs habe ich Poetry Slams entdeckt. Im Fernsehen habe ich in einer „Dead vs. Alive-Show“ Schauspieler*innen mit Texten verstorbener Dichter*innen gegen Poetry Slammer*innen antreten sehen und war fasziniert, dass Gedichte plötzlich cool sind.
Mit 18 Jahren habe ich angefangen meine Texte auf Bühnen vorzutragen. Anschließend bin ich zum Studium nach Marburg gezogen, wo es eine große Lesebühnenszene gab. Von da an bin ich schon viel herumgefahren zu Auftritten. Nach dem Bachelor folgte ich meiner Mitbewohnerin in die Hauptstadt. Berlin ist ein spannendes Umfeld, wo ich mich stark weiterentwickeln konnte. Seit fünf, sechs Jahren bin ich nun selbständig als Spoken-Word-Performerin.
Zur Person
Seit zehn Jahren steht Tanasgol Sabbagh (geb. 1993) bereits auf diversen Bühnen. Ihre erste war eine Bierkiste in einem Jugendzentrum in ihrem Nachbarort Bad Nauheim. Von da an reiste sie durch Hessen zu verschiedenen Poetry Slams. Dass es möglich ist, denselben Text mehrmals vorzutragen, war ihr noch nicht bewusst. Neben der Schule fehlte ihr oft die Zeit zum Schreiben. Dann verfasste sie noch schnell im Zug etwas für ihren Auftritt oder las ihre Tagebucheinträge vor. Heute weiß Sabbagh worauf es ankommt. Seit 2016 lebt sie als Spoken-Word-Performerin in Berlin, wo sie u.a. auch mit Kultureinrichtungen zusammenarbeitet. Zuvor studierte sie in Marburg Orientwissenschaft mit Schwerpunkt Politik. Sie ist Mitglied im Verein Slam Alphas und Teil der Lesebühne parallelgesellschaft. Ihr Wissen und ihre Leidenschaft für das gesprochen Wort, gibt die engagierte Poetin bei Workshops weiter. Mit ihren dringlichen Texten über Missstände und Konflikte in der Gesellschaft öffnet sie vielen die Augen und regt zum Nachdenken an.
An Salzburg schätzt sie die Kombination aus touristischer Altstadt, Stadtleben und Natur. Bei einem Spaziergang auf den Bergen kommt sie zur Ruhe. Wenn die Abgabe wichtiger Projekte naht, steht sie bereits um 6 Uhr auf, weil in den frühen Morgenstunden ihr Kopf noch klarer ist. Sie genießt das Gefühl produktiv zu sein, während andere noch schlafen. Im Laufe des Tages wächst die innere Zensur, in der Früh ist sie noch milder zu sich selbst.